Urteile des EUGH vom 01.12.2022 Rs. C-141/20 und Rs. C-269/20 überraschen
Betr. Organschaft rechneten weite Teile der Literatur mit einem Umbruch und Konsequenzen auch für viele Unternehmen, was aus zwei Vorlagebeschlüssen des BFH an den EUGH gefolgert wurde. In den Vorlagefragen des BFH ging es insbesondere um die Frage, ob die deutsche Regelung zur umsatzsteuerlichen Organschaft in § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG und zur Bestimmung des Organträgers als Steuerschuldner unionsrechtskonform ist oder nicht. Sollte die nationale Sichtweise nicht unionsrechtskonform sein, hätte dies weitreichende Konsequenzen gehabt. Die Schlussanträge der Generalanwältin Laila Medina in den Verfahren gingen schon so weit, dass eine Neuregelung des nationalen deutschen Rechts notwendig wäre.
Grundlagen
Seit den Vorlagefragen des BFH war es für die Steuerpflichtigen richtig – nach entsprechender (betragsmäßiger) Durchsicht deutscher Organkreise – umsatzsteuerliche Veranlagungen offenzuhalten. Das bestätigen jetzt die Urteile des EUGH vom 01.12.2022, Rs. C-141/20 (Finanzamt Kiel gegen Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie mbH zu BFH v. 11.12.2019 – XI R 16/18) und EuGH Rs. C-269/20 (Finanzamt T gegen S zu BFH v. 07.05.2020 – V R 40/19). Denn der EuGH lässt deutsche Umsatzsteuerorganschaft bestehen. Lt. EuGH bestimmt § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG den Organträger zulässigerweise zum Steuerschuldner.
EuGH Urteile C-141/20 und C-269/20
Beide Urteile C-141/20 und C-269/20 beziehen sich auf Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388 der EG, die ab 01.01.2007 von der Mehrwertsteuersystemrichtlinie (MwStSystRL) der EU abgelöst wurde. Allerdings sind die Urteilsgrundsätze auf die heutige Fassung der umsatzsteuerlichen Regelung zur Organschaft nach nationalem Recht zu übertragen. Das heißt: Ein Mitgliedstaat darf den Organträger zum Steuerpflichtigen bestimmen.
Das hatte die Generalanwältin in den beiden Vorlageverfahren völlig anders gesehen. Aber die 2022er-Entscheidungen des EuGH sehen in der deutschen Regelung keinen Verstoß gegen das EU-Recht, da die Organgesellschaften über § 73 AO für ihre Umsatzsteuerschulden haften und daher keine Steuerausfälle für den Fiskus drohen. Auch könne der Organträger aufgrund der erforderlichen Eingliederung nach deutschem Recht seinen Willen in den Organgesellschaften durchsetzen, was eine Erhebung der Umsatzsteuer ermöglicht. Unter diesen Voraussetzungen ist es aus Sicht des EuGH zulässig, die Organschaft (hier, ein Mitglied des Organkreises bzw. der Mehrwertsteuergruppe) als Steuerschuldner für die Umsatzsteuern des gesamten Organkreises zu bestimmen.
Anschlussfragen:
Steuerfreie Innenumsätze künftig noch möglich?
Sind die Eingliederungsvoraussetzungen bei einer Organschaft ändern?
Die Anschlussfrage ist, ob damit mit der EuGH-Rechtsprechung zugleich das Konstrukt der steuerfreien Innenumsätze in Zweifel gezogen werden muss. Das wird sich noch zeigen. Jedenfalls ließ der EuGH offen, ob Innenleistungen im Organkreis – wie bislang von Finanzverwaltung und Rechtsprechung angenommen – nicht steuerbar sind. Sollte diese Konstruktion geändert werden, würde dieses einen erheblichen Buchhaltungs- und Administrationsaufwand auslösen.
Der deutsche Gesetzgeber wird möglicherweise auch die Eingliederungsvoraussetzungen bei einer Organschaft zu überdenken und ggf. zu regeln haben. Denn der EuGH weist darauf hin, dass ein Abstellen auf ein Über- und Unterordnungsverhältnis nicht dem EU-Recht entspreche. Vielmehr müsse grundsätzlich auch eine Organschaft zwischen Schwestergesellschaften möglich sein.
RA Marc d‘Avoine
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